Ein Roman über das erste Mal, aber kein Porno und sicher kein Liebesroman. Marie Darrieussecq legt in ihrem neuen Roman „Prinzessinnen“ die Pubertät und das Erwachsenwerden unters Mikroskop. In der französischen Provinz der 1980er Jahre erlebt Solange ihren ersten Sex, unter anderem mit ihrem Nachbarn, einem erwachsenen Mann, der sie seit ihrer Kindheit mit aufzieht. Lolita revisited, aber dann anders. Und das ist nur eine Folie des Romans, der schon im Titel auf einen anderen (französischen) Klassiker, „Die Prinzessin von Clèves“ von Madame de LaFayette aus dem 17. Jahrhundert,  verweist und neu interpretiert. Britta Behrendt sprach mit Darrieussecq in Amsterdam.

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Verlagstext:Die blutjunge Solange will nicht länger warten. Während Madonna mit dem Hit „Like a virgin“ das verschlafene Städtchen Clèves erreicht, setzt sie alles daran, ihre Unschuld zu verlieren. Ein cooles, freies und selbstbestimmtes Mädchen will sie sein. Von den Eltern über alles Wichtige im Dunkeln gelassen, will sie in Sachen Sex endlich mit ihren Freundinnen mithalten können. Und so lässt sie sich mit dem fast doppelt so alten Monsieur Bihotz ein, der jahrelang ein Ersatzvater für sie war – eine Affäre, die nur tragisch enden kann. Mit ihrer schonungslosen Offenheit und psychologisch genauen Beobachtung hat diese Geschichte einer modernen Lolita in Frankreich Furore gemacht.

Buchtipp von Marie Darrieussecq: „Alles zerfällt“ von Chinua Achebe (Fischer)

Marie Darrieussecq: Prinzessinnen. Hanser 2013. 304 Seiten. 19,90 Euro. Übersetzung: Patricia Klobusiczky

Rezension von Britta Behrendt (Neue Zürcher Zeitung) hier

Marie Darrieussecq liest aus „Prinzessinnen“ hier

 

Worum geht es?

Es ist ein Roman über das Erwachsenwerden. Und über das Leben in der französischen Provinz. Er spielt in den 80er Jahren. Es ist ein Buch über ein junges Mädchen auf dem Weg zu ihrem ‘ersten Mal’, sexuell gesehen. Das ist eine ziemlich heftige Geschichte. Es geht um das erste Mal Sex und ein paar Male danach. Sie erlebt das erste Mal, schön und gut, aber dann wird es kompliziert. Erst nach dem ersten Mal entdeckt man seine Sexualität. Ich wollte mehrere Dinge: Es gibt zahllose Romane über diese letzte Phase der Jugend, aber ich konnte nichts finden über den physischen Aspekt, diesen sehr neuen Kontakt von zwei jungen Körpern. Ich schreibe auf eine beinahe ‘molekulare’ Weise, ‘atomisch’. Wenn ich ‘physisch’ sage, dann meine ich die Welt der Chemie und Physik, der Materie, weil wir auch aus Atomen bestehen.

Es geht also mehr um Sex als um Liebe?

Ja, es ist kein Liebesroman. Aber ich finde es auch keinen erotischen Roman. Meines Erachtens ist das Buch nicht sexuell aufregend. Der Roman ist ziemlich brutal. Eine der Ausgangsideen ist der vielleicht ein wenig provokante Gedanke, dass es vielleicht besser ist, als Jugendlicher auf einen verliebten Erwachsenen zu treffen als auf einen anderen Jugendlichen, einen Gleichaltrigen, der ungewollt brutal sein kann. Dieses Alter ist intensiv egoistisch und hat diesen Widerspruch, dass man anfängt sich kennenzulernen, zu berühren etc. und gleichzeitig eigentlich nur an sich selbst denkt.

Warum haben Sie die Handlung in den 1980er Jahren angesiedelt?

Dass der Roman in den 80er Jahren spielt, hat damit zu tun, dass ich diese Zeit natürlich sehr gut kenne, weil mir der Soundtrack der Zeit sehr gefällt, mit The Cure beispielsweise. Es ist ein recht musikalischer Roman. Ich glaube, dass man über diese Zeit noch nicht genug nachgedacht hat. Es ist die Zeit, die auf die angebliche sexuelle Befreiung folgt, die erst mit dem Zugang zur Pille und Abtreibung eine wahre Befreiung der Frau ist. Sie gilt auch für die Männer, die sich frei bewegen können, ohne Konsequenzen wie eine Schwangerschaft befürchten zu müssen. Was man bei dieser Zeit jedoch meist nicht bedenkt, ist dieses Paradox, dass Jahrtausende lang jungen Mädchen eingeschärft wurde, jungfräulich in die Ehe zu gehen, und plötzlich eine Jungfrau mit 20 prüde ist, ein Mauerblümchen, ein Rühr-mich-nicht-an. Es gab die ‘Verpflichtung’, seine Jungfräulichkeit zu verlieren. Ich denke, dass dies historisch weltweit das erste Mal ist, dass Mädchen ihre Jungfräulichkeit verlieren mussten.

Ich gehöre zu dieser Generation, die sich in dieser paradox-schizophrenen Situation befand, wo man ‘es’ machen musste, ohne gleichzeitig eine Schlampe zu werden. Man musste also mit jemandem schlafen, aber nicht zu viel oder nicht zu offensichtlich. Es musste bekannt sein, aber dann wieder nicht zu sehr. Es war eine extrem verwirrende Zeit. Man ist ja sowieso in seiner Jugend orientierungslos. Man weiß nicht, wie man sich begegnen soll, man kennt seine eigenen Gefühle und Wünsche sehr wenig oder den eigenen Körper.

Warum sind die 1980er Jahre in der Geschichte der Sexualität so wichtig?

In Frankreich gab es in dieser Zeit einen fürchterlichen Song, der ging so: Eine befreite Frau zu sein ist nicht so einfach. Und gleichzeitig musste man so eine befreite Frau sein. Auch die Frauenmagazine in der Zeit waren voll mit Artikeln über Frigidität, Orgasmus etc., wie schwierig das alles ist. Und die Jugendlichen lasen diese Magazine mit ihren Müttern. Ich glaube, das war eine Zeit, die man in der Geschichte der Sexualität noch nicht abschließend betrachtet hat. Und dann kommt auch noch Aids, was wiederum viel im Verhalten verändert. Es gibt da ein Zeitfenster von ca. 15 Jahren, das sehr viel Romanstoff birgt.

Wo sind die Parallelen zu Lolita?

Ich habe an Lolita gedacht und das Buch erneut gelesen, während ich schrieb. Lolita von Nabokov hatte ich vor langer Zeit gelesen und es ist wirklich ein außergewöhnliches Buch. Ich habe es aus der Perspektive von Lolita gelesen. Während anderthalb Jahren findet zweimal täglich eine Vergewaltigung statt, eine sehr grausame Vergewaltigung. Und, das hatte ich vergessen, in dem Moment, wo Lolita nicht mehr will – und eigentlich wollte sie nie – in dem Moment des Widerstands, bezahlt er sie, um sie umzustimmen. Und danach stiehlt er das Geld zurück. Das alles ist von großer Grausamkeit, aber großartig, weil es sehr ironisch und auch komisch ist. Aber aus der Perspektive von Lolita ist es ein absoluter Albtraum.

Ich wollte einerseits Lolita eine Stimme geben, aber Solange ist nicht Opfer eines furchterregenden Monsters, überhaupt nicht. Es ist auch ein Buch über die Grauzonen des Einverständnisses. Ich glaube, dass Solange sich mit einer anderen Figur, Arnaud, der gleichaltrig und ein richtig mieser Kerl ist, ein Arschloch, selbst vergewaltigt. Solange hat nie ‘nein’ sagen gelernt, weil man ja so ‘frei’ ist. Und sie hat Lust, sie möchte sich entdecken, sie hat eine große Kraft in sich und gleichzeitig tut sie Dinge, die sie eigentlich nicht tun will und von denen sie nicht einmal wusste, dass sie existieren. Sie hat eine merkwürdige Erwartungshaltung in sexueller Hinsicht. Ich glaube, dass Mädchen in den 80er Jahren zu Dingen verleitet wurden, die über ihre Wünsche hinausgingen. Auch in meinem Alter ist das Erforschen seiner Wünsche eine schwierige Angelegenheit, zu finden, was man will, was man begehrt, was und wen man liebt, das ist die Geschichte [s]eines Lebens. Und das schon mit 15.

Übersetzung: Britta Behrendt